Helmut Gröttrup (* 12. Februar 1916 in Köln; † 4. Juli 1981 in München) war ein deutscher Ingenieur sowie Raumfahrt- und Computerpionier. Er verantwortete die Bordsysteme und Steuerung im deutschen Aggregat 4 (V2)-Projekt und für die sowjetische Raketenentwicklung, war danach an der Entwicklung elektronischer Systeme für die Logistiksteuerung, Betriebsdatenerfassung und Identifikationssysteme beteiligt und erfand das Grundprinzip der Chipkarte.[1]
Helmut Gröttrups Vater Johann Gröttrup (1881–1940) war Ingenieur für Maschinenbau mit dem Schwerpunkt Brückenbau.[2] Später arbeitete er hauptberuflich beim Bund der technischen Angestellten und Beamten (Butab), einer sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaft in Berlin und veröffentlichte 1926 das Buch Mensch und Technik als „kulturgeschichtlichen Rückblick auf den Weg des Menschen mit einer Ausschau in die Zukunft“.[3] Seine Mutter Thérèse Gröttrup (1894–1981), geb. Elsen, war in der Friedensbewegung aktiv und stand mit Ernst Toller im Briefverkehr.[4] Johann Gröttrup wurde 1933 arbeitslos.
Helmut Gröttrup machte 1935 das Abitur und begann 1936 ein Physik-Studium an der Technischen Hochschule Berlin. Im gleichen Jahr wurde er vom Wehrbezirkskommando als „tauglich“ eingestuft und bis 1939 zurückgestellt. 1939 schloss er sein Studium in der Fachrichtung Physik mit sehr gut ab. Seine Diplomarbeit schrieb er bei Prof. Hans Geiger über Zählrohrphysik, die er ebenfalls mit sehr gut abschloss. Nach seinem Studium arbeitete er im „Forschungslaboratorium für Elektronenphysik“ in Berlin-Lichterfelde bei Manfred von Ardenne, das er Ende September 1939 verlassen musste, um einem Gestellungsbefehl nach Peenemünde zu folgen.
Ab Dezember 1939 war Helmut Gröttrup Entwicklungsingenieur der Heeresversuchsanstalt Peenemünde für die Gebiete Messtechnik, Funkmesswertübertragung, Fernsteuerung und autonome Steuerungen. Als Assistent des Entwicklungschefs Wernher von Braun war Gröttrup am Bau der Großrakete Aggregat 4 (bekannt als V2) beteiligt. Gröttrup entwickelte unter Ernst Steinhoff in der Abteilung Bord-, Steuer- und Meßgeräte (BSM) die Lenk- und Steuersysteme des A4 und konnte mit seinem umfassenden physikalischen Wissen viel zur Fehleranalyse bei Abstürzen beitragen. Die zentralen Steuerungs- und Regelungsfunktionen wurden hierbei vom sogenannten „Mischgerät“ ausgeführt, einem elektronischen Analogrechner auf Röhrenbasis, den Helmut Hölzer entwickelt hatte.
In der Nacht vom 21. auf dem 22. März 1944[5] wurde Gröttrup zusammen mit Wernher und Magnus von Braun sowie Klaus Riedel von der Gestapo verhaftet und in das Gefängnis nach Stettin gebracht, ein paar Tage später auch seine Frau Irmgard Gröttrup. Ihnen wurde unter den Tatbeständen der Wehrkraftzersetzung und des Defätismus vorgeworfen, sich mehr für die bemannte Raumfahrt einzusetzen als für kriegsdienliche Raketen. Walter Dornberger, Generalmajor der Wehrmacht und militärischer Leiter des deutschen Raketenprogramms, konnte innerhalb von zehn Tagen mit Unterstützung durch den HVP-Abwehrbeauftragten Major Hans Georg Klamroth[6] ihre Freilassung durchsetzen, weil sie unverzichtbar für die Entwicklung des A4 waren.[7] Gröttrups Gerichtsverfahren wurde bis Kriegsende ausgesetzt, er blieb aber in Gewahrsam des Sicherheitsdiensts der SS.
Er arbeitete dann unter haftähnlichen Bedingungen in Pudagla und Schwedt/Oder an der Weiterentwicklung des A4, bis der Arbeitsstab Dornberger mit 450 Mitarbeitern ab 17. Februar 1945 auf der Flucht vor der sowjetischen Armee in die Umgebung von Bad Sachsa und Bleicherode verlegt wurde und damit in die Nähe des seit September 1943 bestehenden Mittelwerk GmbH bei Nordhausen. Am 6. April 1945 wurden die Wissenschaftler unter Bewachung der SS mit einem Zug von Bleicherode nach Oberammergau gebracht, um sie dem Zugriff der US-Armee zu entziehen oder sie als Faustpfand zu benutzen. Auf diesem Transport setzte sich Gröttrup, der von einem erneuten Haftbefehl und Exekution durch die SS bedroht wurde, in Freising ab und floh zu seiner Familie nach Stöckey[8]:152,162 in der Nähe von Bad Sachsa, die bereits unter US-Kontrolle waren. Da Thüringen am 1. Juli 1945 an die Rote Armee übergeben werden sollte, brachte die US-Armee bis zum 22. Juni 1945 rund 1000 Mitarbeiter des deutschen Raketenprogramms, darunter die Familie Gröttrup, aus dem Südharz um Bleicherode und Nordhausen nach Witzenhausen in Nordhessen. Dort wurde Gröttrup zusammen mit Wernher von Braun, Walter Dornberger und weiteren wichtigen Wissensträgern zunächst unter strenger Bewachung interniert.[9]
Da Helmut Gröttrup sich nicht von seiner Familie trennen wollte, lehnte er es im Rahmen der Operation Paperclip ab, für die Amerikaner in den USA zu arbeiten wie viele namhafte Wissenschaftler der A4-Entwicklung aus Peenemünde, u. a. Wernher von Braun, Walter Dornberger und Ernst Steinhoff, die zunächst interniert wurden. Die Sowjetunion ermöglichte Gröttrup, seine Arbeit in Deutschland fortzusetzen und mit seiner Familie zusammenzubleiben. Er war der bedeutendste deutsche Raketenspezialist, den sich die Sowjetunion für ihr Raketenprogramm sichern konnte.[10]
Ab 1. Juli 1945 übergab die amerikanische Besatzungsmacht Thüringen an die Rote Armee, wie in der Konferenz von Jalta vereinbart, nachdem sie alle im Mittelwerk gelagerten technischen Unterlagen und 110 für den Kriegseinsatz fertiggestellte A4 mit 341 Güterwagen in den Westen und später in die USA gebracht hatte. Vorgefertigte Komponenten und insbesondere Raketentriebwerke waren jedoch in den von den Amerikanern zurückgelassenen Fertigungsstätten des Mittelwerks reichlich vorhanden für umfangreiche Analysen und den vollständigen Aufbau von weiteren ca. 40 A4. Die Konstruktions- und Fertigungsunterlagen des A4 mussten jedoch in der Sowjetischen Besatzungszone praktisch vom Nullpunkt rekonstruiert werden. Die Sowjets gründeten daher im Juli 1945 das Institut Rabe (Raketenbau und -entwicklung) und im September 1945 das Büro Gröttrup in Bleicherode, zunächst unter Leitung von Boris Tschertok, einem sowjetischen Raketenspezialisten.[11][12]:81–82
Im Februar 1946 wurden das Institut Rabe und das Büro Gröttrup zum Institut Nordhausen (auch unter dem Namen Zentralwerke bekannt) unter der Leitung von Generalmajor Lew Gajdukow und dem sowjetischen Raumfahrtpionier Sergei Koroljow als Chefkonstrukteur zusammengeführt. Die deutsche Leitung wurde Helmut Gröttrup als Generaldirektor übertragen.[8]:162 Mehr als 4.000 Mitarbeiter arbeiteten daran, die Konstruktionsunterlagen des A4 wiederherzustellen, die Entwicklung zu verbessern und die Produktion des A4 und ihrer Bestandteile wieder aufzunehmen.[12]:91–102 Im Juli 1946 versuchten der amerikanische und der britische Geheimdienst Gröttrup in den Westen abzuwerben[13]:32, ihre Absichten wurden jedoch durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD aufgedeckt. Gröttrup wurde durch Iwan Serow, dem Leiter der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und späteren Chef des KGB, verhört und unter Beobachtung gestellt.[12]:125f.,225
Da es sich bei der Rakete A4 um ein Rüstungsgut handelte, war deren Entwicklung und Produktion in Deutschland ein klarer Verstoß gegen das Potsdamer Abkommen. Am 13. Mai 1946 beschloss der sowjetische Ministerrat die Überführung der deutschen Spezialisten bis Ende 1946 in die UdSSR und veranlasste entsprechende geheime Vorbereitungen.[12]:108, 126 Am 22. Oktober 1946 wurden im Rahmen der Aktion Ossawakim etwa 160 ausgewählte Wissenschaftler und Ingenieure, die am Institut Nordhausen arbeiteten, unter Zwang zusammen mit ihren Familien per Zug in die Sowjetunion verschleppt, unter ihnen Helmut Gröttrup, der Spezialist für Aerodynamik Werner Albring, der Ingenieur für Steuerungs- und Messtechnik Heinrich Wilhelmi und der Experte für Kreiselsysteme Kurt Magnus. Gröttrup und weitere Spezialisten blieben zunächst in Podlipki in der Nähe Moskaus, während die andere Hälfte umgehend auf die Insel Gorodomlja (heute Siedlung Solnetschny) im Seligersee, ca. 380 km nordwestlich von Moskau, gebracht wurde. Die Familie Gröttrup wurde, zusammen mit den letzten der deutschen Gruppe, im Mai 1948 ebenfalls nach Gorodomlja gebracht, die sie nur unter sowjetischer Begleitung verlassen durften.[14]
In der neu gegründeten Filiale 1 des Forschungs- und Entwicklungsinstituts für Weltraumraketen NII-88 (russ. научно-исследовательский институт) unter der Leitung von Sergei Koroljow und Helmut Gröttrup als Leiter des deutschen Kollektivs setzten die deutschen Spezialisten ihre Arbeit fort, um Produktion und Einsatzverfahren des A4 zum Laufen zu bringen. Bis zum 13. November 1947 gab es Starts von fünf komplett in Deutschland und sechs erst in der Sowjetunion zusammengebauten A4-Raketen. Nachdem deutsche Spezialisten, darunter Helmut Gröttrup und Johannes Hoch, vor Ort ein Problem der Kreiselsteuerung gelöst hatten, verliefen insgesamt fünf Starts vollständig erfolgreich und zwei weitere teilweise erfolgreich.[15] Das deutsche Kollektiv konstruierte viele Verbesserungen für die fast komplett aus sowjetischer Fertigung gebaute R-1, die erstmals im Oktober 1948 gestartet wurde, auch um sehr spezielle Werkstoffe zu ersetzen und die Genauigkeit der Steuerung zu verbessern. Danach erarbeitete es das Projekt G-1[16] mit Abschluss am 28. Dezember 1948, das Projekt G-2 und das Projekt G-4[17] mit Abschluss am 7. Dezember 1949. Der Ministerrat der UdSSR entschied mit Dekret Nr. 3456 am 13. August 1950, auf die Mitarbeit der deutschen Spezialisten zu verzichten, zog diese von den Raketenprojekten ab und beschäftigte sie längere Zeit noch anderweitig, um deren Spezialkenntnisse über Raketen veralten zu lassen.[18]
Das deutsche Kollektiv musste auf Gorodomlja verbleiben, ehe im Juni 1952 die ersten Familien heimkehren durften. Am 22. November 1953 kehrte Gröttrup mit seiner Familie als letzter deutscher Wissenschaftler nach Deutschland zurück. Er floh im Dezember 1953 mit Hilfe der amerikanischen und britischen Geheimdienste von Ost-Berlin nach Köln und wurde durch das britische Joint Intelligence Committee im Rahmen der Operation Dragon Return zum Stand der sowjetischen Raketenentwicklung ausgefragt. Gröttrup warnte dabei deutlich, die sowjetischen Fähigkeiten und ihre Zielstrebigkeit auf keinen Fall zu unterschätzen.[19][13]:222–225
Das A4 bildete eine wesentliche Grundlage für das sowjetische Raketenprogramm und war Vorlage für die verbesserte R-2 und die erste Interkontinentalrakete R-7.[20] Die meist theoretischen Arbeiten der deutschen Wissenschaftler, die aufgrund von Materialmangel und neuen Ideen der Experten verbesserte und vereinfachte Lösungen für die Konzepte G-1 und G-4 vorschlugen, trugen nennenswert zum Erfolg der sowjetischen Raumfahrt und ihrer Vorherrschaft bis 1965 bei. Diese begann im Oktober 1957 mit dem Start des ersten Sputnik-Satelliten in eine Umlaufbahn und wurde im April 1961 mit Juri Gagarin als erstem Kosmonauten fortgesetzt. Die dabei als Trägerrakete verwendete R-7 beruhte auf einer Bündelung von insgesamt 20 A4-ähnlichen Triebwerken mit kegelförmigen Raketenkörpern, wie es die deutschen Wissenschaftler in Gorodomlja bereits 1949 im Konzept G-4 vorgeschlagen hatten, das von den sowjetischen Fachleuten positiv abgenommen wurde.[21]:8–11 Aus politischen Gründen wurden jedoch die Beiträge des deutschen Kollektivs zur sowjetischen Raketenentwicklung in der Öffentlichkeit lange Zeit als unbedeutend eingestuft.[22][23]
Helmut Gröttrup war mit Irmgard Gröttrup (1920–1991), geb. Rohe, verheiratet, deren Buch Die Besessenen und die Mächtigen über die sechs Jahre in der Sowjetunion 1958 veröffentlicht wurde und sehr detailliert in tagebuchartigen Erinnerungen über diese Zeit Aufschluss gibt.[24] Der Kleine technische Exkurs im Nachwort kommt zu folgendem Resümee:
„Die R14 ist wie jede andere Fernrakete ein Schritt auf dem Weg zur Weltraumrakete, die erst unbemannt, vielleicht später auch bemannt zu anderen Sternen vorstoßen wird. Die Raketentechniker in aller Welt träumen von dem Tag, an dem die Regierungen ihrer Länder den Unsinn des Krieges einsehen und dem Mißbrauch der Raketen als Waffen abschwören. Dann wird es möglich, die bisher für Rüstungszwecke ausgegebenen ungeheuren Mittel der Forschung zur Verfügung zu stellen. In dieser ist der Rakete eine wichtige Rolle zugewiesen.“
In einem Interview anlässlich der US-amerikanischen Mondlandung im Juli 1969 kritisierte Gröttrup die hohen Kosten der bemannten Raumfahrt und konfrontierte Wernher von Braun mit der These, dass automatische Raumsonden die gleichen wissenschaftlichen Daten mit einem Aufwand von nur 10 oder 20 Prozent der Kosten erreichen können und dass das Geld besser für andere Zwecke ausgegeben werden solle. Von Braun rechtfertigte die bemannte Raumfahrt mit dem Argument, dass sie der Menschheit zur Unsterblichkeit verhelfe, wenn sie von einer unbewohnbaren Erde auf einen anderen Planeten auswandern müsste.[26]
Zurück in Deutschland war er bei der Standard Elektrik AG und nach deren Fusion mit C. Lorenz bei ihrer Nachfolgerin Standard Elektrik Lorenz in Pforzheim beschäftigt (1954–1958). Gröttrup wurde 1957 zusammen mit Karl Steinbuch dafür bekannt, dass sie den Begriff Informatik prägten.[27][28] Er arbeitete maßgeblich an der weltweit ersten kommerziellen Datenverarbeitungsanwendung auf Basis einer speziellen Rechnerarchitektur für die Überwachung des Lagerbestands und die Steuerung der Bestellabwicklung[29] des Quelle-Versands mit, die als Informatik-System Quelle[30] 1957 den Betrieb aufnahm. Danach war er als Werksleiter für die Elektrotechnische Fabrik Josef Mayr in Pforzheim tätig, die im April 1960 von Siemens & Halske übernommen und 1963 nach München verlagert wurde. Dort arbeitete er am Aufbau eines neuen Arbeitsgebiets zur Produktionsplanung mit Hilfe integrierter Datenverarbeitung. Im April 1965 machte sich Gröttrup selbständig und gründete die Datentechnische Gesellschaft (DATEGE), die unter anderem einen Matrixdrucker (damals von ihm Mosaikdrucker genannt) auf der Hannover-Messe vorstellte und elektrisch kodierte Zugangssysteme entwickelte.
In seiner Schrift Die automatisierte Entscheidung[31] beschäftigte sich Gröttrup 1968 mit der Automatisierung von Verwaltungsvorgängen durch Datenverarbeitung. Falls alle relevanten Daten vorhanden seien, dann könnte die Führungsaufgabe in einem Betrieb (z. B. zur Fertigung von Produkten) durch automatisierte Entscheidungen optimiert werden und die Ausführung durch Einzelbefehle an die unteren Organe in der operativen Ebene gelenkt werden. Allerdings würden fehlende und fehlerhafte Daten zu Informationsdefekten führen, die nur der Mensch durch Gestaltwahrnehmung als Produkt der Evolution des Denkens vernünftig entscheiden könne, weil sie „auch dann noch Gesetzmäßigkeiten erkennt, wenn sie hinter einem Nebel von Zufälligkeiten verborgen sind. Insofern hat die Gestaltwahrnehmung gewisse Ähnlichkeit mit den Korrelationsgeräten der Nachrichtentechnik, die es erlauben, aus einem starken Störnebel schwache Signale herauszufischen.“ Daraus schließt er: „Der Mensch wird in naher und ferner Zukunft nicht aus der Verantwortung entlassen, über sich und seine Umgebung zu entscheiden.“ Hellsichtig sah er aufgrund eigener Erfahrungen mit dem Überwachungsstaat im Nationalsozialismus und Stalinismus die Notwendigkeit des Datenschutzes voraus: „Der einzelne Mensch und der einzelne Betrieb werden gut daran tun, mit der Produktion von Daten vorsichtig umzugehen, damit sie nicht unversehens in den Zugriff einer Organisation oder des Staates geraten.“[31]:1128
1966 meldete Gröttrup einen „Identifikationsschalter“ zur Identifizierung des Kunden und Freigabe des Zapfvorgangs in einer Tankstelle oder auch zur Verfolgung eines Gegenstands zum Patent an.[32] Er versuchte zunächst, die Information elektromechanisch oder in sequenziell auslesbaren elektronischen Speichern festzuhalten. Am 6. Februar 1967 meldete Gröttrup mit DE1574074 einen „nachahmungssicheren Identifizierungsschalter“ auf Basis eines monolithisch integrierten Halbleiters an, der sehr kompakt aufgebaut ist und keinerlei Leitungen nach außen besitzt.[33] Gemäß dieser Erfindung sind die Informationen aufgrund der ebenfalls geprüften Abmessungen „nicht durch diskrete Bauelemente nachahmbar“. Die Identifikationsdaten werden durch integrierte Zähler dynamisch so variiert, dass der zugrunde liegende Schlüssel nicht durch einfaches Auslesen kopierbar ist und daher im Chip verborgen bleibt. In einer dazu parallelen Anmeldung DE1574075 beschrieb Gröttrup die drahtlose Übertragung durch induktive Ankopplung, die später zur RFID-Technik führte.[34] Diese beiden Erfindungen enthalten die wesentlichen Elemente für das Funktionsprinzip und die Sicherheit aller späteren Anwendungen der Chipkarte für den Zahlungsverkehr, Telefonkarten, SIM-Karten sowie Ausweissysteme und ID-Karten. Damit erbrachte Helmut Gröttrup den ersten entscheidenden Schritt für die Erfindung der Chipkarte.
Am 13. September 1968, also mehr als 18 Monate später, reichte Gröttrup in Österreich die Patentanmeldung „Identifizierungsschalter“ ein, in welcher der 1967 angemeldete „nachahmungssichere Identifikationsschalter“, angereichert mit weiteren technischen Ausführungsformen, erneut beschrieben und beansprucht wird. In dieser Anmeldung wurde Gröttrups neuer Geschäftspartner Jürgen Dethloff als Miterfinder benannt. Diese erneute Anmeldung war möglich, weil die beiden deutschen Anmeldungen von 1967 noch nicht als Offenlegungsschrift veröffentlicht waren. Am 15. Mai 1970 erteilte das Österreichische Patentamt das Patent AT287366B. Unter Bezugnahme auf die österreichische Priorität von 1968 wurde Patentschutz auch in Deutschland beantragt und am 1. April 1982 mit der Patenterteilung DE1945777C3 erlangt.[35] Dabei reduzierte sich der Patentschutz weitgehend auf die Inhalte der vorhergehenden Patentanmeldung von 1967. Das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) benennt die Chipkarte als Meilenstein der Technikgeschichte unter den Erfindungen, die das Alltagsleben entscheidend beeinflussen.[36] Auf dieser Basis werden in der Fachwelt für die Erfindung der Chipkarte das Prioritätsdatum (13. September 1968) und die benannten Erfinder der in Österreich und Deutschland erteilten Patente zugrunde gelegt, zumal auf dieser Basis Patentschutz auch in weiteren wichtigen Industrieländern, u. a. Frankreich, Großbritannien und USA, erteilt wurde.[37][38]
Ab Juli 1970 leitete Gröttrup die von Siegfried Otto, dem Eigentümer der Banknotendruckerei Giesecke & Devrient in München, gegründete Gesellschaft für Automation und Organisation mbH (GAO)[39]:121–123 und legte die Basis für den später erfolgreichen Produktbereich Chipkarten für Zahlungsverkehrs- und Sicherheitssysteme im Unternehmensbereich Karten (seit April 2018 G+D Mobile Security GmbH). GAO produzierte 1979 weltweit die ersten normgerechten Chipkarten (Größe 85,60 mm × 53,98 mm, Dicke 0,76 mm) im Labormaßstab.[40] Außerdem verantwortete Gröttrup als Geschäftsführer den Aufbau des Produktbereichs für die automationsfähige Banknote[39]:201–205 mit maschinenlesbaren Sicherheitsmerkmalen zur Erkennung von Falschgeld und die Entwicklung von Systemen zur automatisierten Banknotenbearbeitung. Das Modell ISS 300 als Halbautomat erreichte anfangs eine Verarbeitungsgeschwindigkeit von 4 Banknoten pro Sekunde und wurde ab 1977 bei der Deutschen Bundesbank eingeführt.[41] Die ISS 300 wurde in 67 Länder verkauft und setzte damit einen weltweiten Standard für Banknotenbearbeitungssysteme. Sie wird seit 2006 im Deutschen Museum im Betrieb vorgeführt und demonstriert als frühes Beispiel automatischer Mustererkennung eine bedeutende Anwendung der Informatik.[42]
Das Funktionsmuster des Modells ISS 3000 als erster Vollautomat mit sehr ehrgeizigen 40 Banknoten pro Sekunde wurde 1977 bei der Federal Reserve Bank of New York getestet, aber bis zum Serienanlauf in 1987 nochmals grundlegend überarbeitet[1]:18, ehe das System als BPS 3000 flächendeckend bei der Federal Reserve Bank der Vereinigten Staaten eingesetzt wurde.[43] Der Unternehmensbereich Banknotenbearbeitung (seit April 2018 G+D Currency Technology GmbH, Division Currency Management Systems) entwickelte sich auf dieser Basis seit Mitte der 1990er Jahre zum Weltmarktführer für die Ausstattung von Zentralbanken und die Qualitätsprüfung in Banknoten-Druckereien.[39]:205–217
„Helmut Gröttrup war ein von seiner Arbeit zutiefst überzeugter Ingenieur. […] Ich muß ehrlich anerkennen, daß er mir als Mensch und als talentierter Ingenieur gefiel. Er besaß diesen ‚göttlichen Funken‘.“
„Es gelang ihnen, den von den Amerikanern enttäuschten H. Gröttrup für ihre Pläne zu interessieren. Dieser damals 30 Jahre alte Elektronik-Ingenieur hatte in Peenemünde […] auch einen sehr breiten Überblick über den damaligen Stand der Raketentechnik gewonnen. Sein freundliches, offenes Wesen, seine schnelle Auffassungs- und Kombinationsgabe und schließlich auch sein Organisationstalent ließen Gröttrup zur Schlüsselfigur der von den Sowjets geplanten Raketenentwicklungsgruppe werden.“
„In allen Stufen seiner Laufbahn prägten seine Arbeit menschliche Wärme, beispielhaftes Pflichtbewußtsein, hoher Intellekt, hervorragende Fähigkeiten sowohl im organisatorischen Bereich als auch beim Führen von Mitarbeitern, die er zu hohen Leistungen zu motivieren verstand. […] Seine Ausbildung, die vielfältigen Erfahrungen und sein breitgefächertes physikalisches Wissen in Verbindung mit seiner besonderen Begabung für die Lösung theoretischer Aufgaben und das außerordentliche Geschick für Organisation und Menschenführung erschlossen ihm ein neues faszinierendes Arbeitsgebiet: Evolution und Revolution der für Gesellschaft, Wirtschaft und Kreditwirtschaft bedeutsamen Zahlungsverkehrssysteme. […]
Die Weiter- und Fertigentwicklung oder gar Anwendung der „hochintelligenten“ ID-Karte, der Chip-Karte, die Helmut Gröttrup maßgeblich in den letzten achtzehn Monaten beschäftigte, war ihm nicht mehr vergönnt zu erleben.“
„Mit seinen Raketen-Konstruktionsphilosophien legte Helmut Gröttrup den sowjetischen Konstrukteuren einen Schatz in die Hände, die zu einer Raketen-Zellenkonstruktion führte, die […] heute noch in jeder SOJUS-Raketenversion erfolgreich fliegt. Mit jedem Start beweist diese Rakete die Genialität der komplexen konstruktiven Arbeiten Deutscher in der UdSSR.“
„Gröttrup hatte geholfen, die Basis zu legen für die späteren ersten großen Schritte der sowjetischen Raumfahrt, ihre anfängliche Führungsposition in Richtung Mond. Der große Triumph blieb ihm verwehrt. […] Helmut Gröttrup blieb ein anderes Lebenswerk vorbehalten: Er erfand später die Chipkarte und ließ sich diese patentieren. Den Wettlauf zum Mond konnte er nicht gewinnen, dafür revolutionierte, beschleunigte, vereinfachte er weltweit das Bezahlen von Rechnungen, den Zugang legitimierter Personen zu exklusiven Bereichen, die Handhabung von Ausweisen für die Bibliothek, für die Krankenkasse, für den Bankautomaten. Viele sagen, dies sei ein größerer Sprung für die Menschheit gewesen als der Sieg beim Wettrennen ins All.“
„Gröttrup hatte die Gabe, zuhörungsfähig und zuhörungswillig zu sein. Gröttrup hörte zu, dachte über das Gehörte nach und entließ seine Gesprächspartner mit guten Hinweisen und hoch motiviert. Er hatte die Gabe eines Lehrers mit Jugendlichen, die noch nicht wissen, dass sie für sich lernen, sondern vielfach für den Lehrer lernen, wenn er ihnen gefällt. […] Und das könnte Tschertok mit seinem „göttlichen Funken“ gemeint haben.“
Personendaten | |
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NAME | Gröttrup, Helmut |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Ingenieur und Erfinder der Chipkarte |
GEBURTSDATUM | 12. Februar 1916 |
GEBURTSORT | Köln |
STERBEDATUM | 4. Juli 1981 |
STERBEORT | München |